ⓦ 63 Quo Vadis Thomas Leuthard?
Thomas Leuthard (Jahrgang 1971) war und ist die Institution in Sachen Streetfotografie im deutschsprachigen Raum. Der Schweizer war über Jahre unermüdlich auf allen Kanälen präsent und hat mit seiner Art der Fotografie viele Menschen inspiriert. Doch dann war 2016 plötzlich Schluss. Was macht Thomas Leuthard eigentlich heute? Sehr lange war er abgetaucht und hat nichts von sich hören lassen. Ich habe ihn in Zürich getroffen und wir haben über die Fotografie, das Leben und den aktuellen Status Quo geplaudert.
DER Leuthard
Thomas Leuthard war und ist die Institution in Sachen Streetfotografie im deutschsprachigen Raum. Fast alle, die ich kenne, haben durch ihn zur Fotografie gefunden und gehen regelmäßig mit der Kamera auf die Straße und versuchen (wie er), die entscheidenden Momente auf die Speicherkarte zu bannen. Der Schweizer war über Jahre unermüdlich auf allen Kanälen präsent und hat mit seiner Art der Fotografie wirklich viele Menschen inspiriert. Bei soviel Bewunderung gab es auch Neider und Leute, die ihn nicht mochten. Er urteilt messerscharf und wenn ein Bild keine Geschichte hat, es an Kreativität mangelt oder Störendes vom eigentlichen Motiv ablenkt, dann konnte seine Bildbewertung nicht wohlwollend sein. Er hat eben sehr einfache aber klare Regeln, die er für sich anwendet. Eines Tages hat er für sich entschlossen: ich höre auf!
Streetfotografie ist tot
2016 kam dann die überraschende Ankündigung, dass Thomas Leuthard seinen kompletten Rückzug aus der Fotografie bekannt gab. Mit der Konsequenz, keine neue Bilder, keine Workshops und Stillegung seiner bislang sehr stark bespielten Social-Media-Kanäle (Facebook, YouTube, Instagram ...). Das war wie eine Detonation für seine zigtausend Fans. Dazu plakatierte er in seinen Kanälen nur die eine sinngemäße Botschaft "Streetfotografie ist tot" und alle Bilder und Inhalte waren gelöscht. Ohne jede Erklärung hat er sich vom Acker gemacht und von da an war er abgetaucht. Die Community hat wild spekuliert, aber er blieb stumm.
Zeit zu reden
Grund genug für mich ihn einfach mal anzusprechen. Im Rahmen meiner SlowTravelTour2018 habe ich mir vorgenommen, alte Bekannte, Freunde, Wegbegleiter und vor allem auch virtuelle Social-Media-Freunde im echten Leben zu treffen.
Was ist die SlowTravelTour? Ich möchte "slow" durch die Lande reisen. Nicht rasen, sondern reisen, langsam unterwegs sein, verweilen und Neues entdecken, eintauchen, Menschen kennenlernen und vieles dokumentieren. Ich möchte die Magie des langsamen Reisens spüren. Mir ist es wichtig ein kleines Gebiet gut kennenzulernen, dort für ein paar Tage zu verweilen, mehr zu Fuß oder mit dem Rad erkunden. Ich möchte die Landschaft auf dem Weg sehen und spüren können, das Beste in jedem Moment entdecken und erleben. So entsteht eine stärkere Verbindung zu dem Ort, den ich gerade besuche. Ich reise ohne Stress, in meinem Tempo und bleibe lange genug, um z.B. mein Lieblingscafe zu wählen. Ich nenne es SlowTravelTour2018. Das gemächliche Reisen fordert mich heraus, weil ich fremden Orten näher komme und ihnen aktiv entgegentreten (muss). Das bedeutet weniger Besichtigen der Touristen-Hotspots und mehr Beobachten der Umgebung und der Menschen.
Thomas Leuthard kenne ich schon seit über vier Jahren. Ich habe zwei seiner Workshops besucht und ihn beim Fotomarathon in Karlsruhe begleitet (er hat gewonnen!). Dann hat er mich im letzten Jahr zusammen mit Jens Krauer zu meiner Green-Dollar-Idee in seinem Streetcast.FM Podcast interviewt. Wir haben den Kontakt auch in seiner "Abwesenheit" nicht abgebrochen. Vor kurzem habe ich ihn angeschrieben, ob er nicht Lust auf ein Wiedersehen hätte. Er hat sofort zugesagt und so haben wir uns am 19.6.2018 in Zürich getroffen.
Job hin schmeissen ... einfach gemacht
Wir beide sind "Job-Aussteiger". Er hat vor ca. zwei Jahren seinen lukrativen IT-Job beim Schweizer Staat "geschmissen" und ich nach über 25 Jahren als Werbeleiter bei verschiedenen Verlagen. Im Gespräch wollte er von mir wissen, wie meine Erfahrungen am Tag 1 danach waren.
Ich habe meine feste Anstellung als Werbe- und Verkaufsleiter eines großen Verlages gekündigt. Ich war über 30 Jahre in der Branche tätig und meinen letzten Job in der Kölner Mediengruppe Rudolf Müller habe ich genau 20 Jahre sehr gerne und erfolgreich gemacht. Die Arbeit war sehr interessant, abwechslungsreich und anspruchsvoll. Ich habe mich wohlgefühlt. Die Atmosphäre im Familienunternehmen war wirklich freundlich, die Kollegen waren nett und mit den Chefs kam ich gut aus. Mein Entschluss auszusteigen ist nach und nach in den letzten drei Jahren gereift. Ich möchte in meinem Leben noch so vieles mehr erleben, mehr Reisen und mich weiter künstlerisch ausdrücken. Und bis zur Rente wollte ich nicht warten. Ich bin sehr dankbar, dass ich ganz liebe Menschen um mich habe, die das verstehen und die mich auf meinem Weg unterstützen.
Ich habe für mich schon vor langer Zeit entschieden, dass ich nur bis Mitte 50 arbeiten möchte. Dann sind die Kinder aus dem Haus und ich kann das tun, was mir richtig Spaß macht. Das ist vor allem das Reisen, interessante und bewegende Menschen treffen und die Fotografie. Vor meinem Abschied habe ich schon ein längeres Sabbatical genommen, welches mich in meiner Absicht bestärkt hat. Am 30.4.2017 war dann mein "letzter" Tag im Verlag. Dann war ich über drei Monate in Neuseeland allein unterwegs. Was ich dort erlebt habe, könnt ihr in den weekly 19-33 nachlesen. Dort war ich sehr sparsam unterwegs, bin privat und bei Airbnb günstig untergekommen. Ich bin nicht wild rumgefahren, sondern blieb längere Zeit an einem Ort. Das gab mir die Gelegenheit mehr zu erleben und ins Leben einzutauchen.
Schaut nochmal in weekly#33, wo ich mich als puzzelnden Schwamm beschreibe, der erst nach und nach wieder nach Hause kommt. Ich fühle mich wie ein Puzzle, sehr viele Teile von mir sind anderswo, bleiben dort, kommen später oder nie an. Ich höre gerade das Meer rauschen und die Sonne scheint auf meine Haut. Ich bin ein Schwamm, ein riesiger Schwamm, gefüllt mit Eindrücken, Bildern, Begegnungen und Menschen. Ich bin ein puzzelnder Schwamm, der stetig beobachtet, langsam aufsaugt und sich nach und nach zusammensetzt. Immer wieder neu, langsam und anders.
Mein Fokus im Moment liegt in der Fotografie, im Reisen und auf meiner Tätigkeit als Editor und Administrator beim EYE Photo Magazine, welches monatlich erscheint. Schaut mal auf die Webseite oder in die mittlerweile fast 15.000 Mitglieder starke Facebook Gruppe. Dort schreibe ich auch eine regelmäßige Kolumne.
Von Zeit zu Zeit nehme ich an Foto-Wettbewerben teil, obwohl es nicht mein Ziel ist zu gewinnen. Ich mag die Herausforderung, sich einem unbekannten Thema zu nähern und es in einem Bild oder einer Serie möglichst neu und interessant umzusetzen. Dann habe ich noch meine persönliche Green-Dollar-Idee entwickelt. Das ist eine Art Gegengeschäft, wo ich für Handwerker und Dienstleister nützliche Fotos oder Videos erstelle und ich im Gegenzug von deren Handwerkerleistungen profitiere. Mehr dazu findet ihr auf meiner Seite https://bewegende-menschen.jimdo.com. Aber ich habe da keinen Druck und muss auch kein Geld verdienen, schon garnicht mit der Fotografie.
Gibt es eine Navi-App nur für Feldwege?
Neben der Fotografie, seinem Rücktritt und seinem jetzigen Tun, haben wir auch über die WM, Recycling-Höfe, Vespa fahren, Diät-Tipps (16+8 Intervallfasten), Workshop-Ideen für das Sehen lernen und Kreativität geredet. Spannend fand ich seine Ideen zur Infrarot- und Kugelfotografie. Er erzählt auch, wie er bei der Geburt des Street-Fotomagazin "Soul of Street" mitgewirkt hat. Wir reden über die rege Foto-Community, Photokina, Fotomarathons, Fotowalks und über Podcasts. Lieben Gruß an Frank Fischer und Dieter Bethke, den Machern des Fotophonie Podcasts. Schaut mal rein und achtet auf sein Versprechen die IKEA Stuhl Stefan Challenge bis zum 1.8. endlich umzusetzen ...
Seine Fotografie liegt auf Eis
Im ersten halben Jahr nach seiner Job-Kündigung hat er alle seine Sachen realisiert, die er schon immer mal machen wollte und auch vieles umgesetzt. Aber dann kam der Punkt, wie geht es weiter: Die Fotografie scheidet für ihn aus, weil er schon so viel (quasi alles) fotografiert hat und nichts Neues mehr sieht und keine Inspiration mehr spürt. Seine Leidenschaft und Passion war bestimmt einfach zu hoch.
Das Feuer ist nach und nach ausgegangen. Ihm fällt es heute schwer, die Qualität zu halten und die ganze Vermarktung via Social-Media ist zu anstrengend für ihn. Ich glaube, er hat es in den acht Jahren vielleicht zu intensiv betrieben. Und wenn es keinen Spaß mehr macht, dann ist es letztendlich Arbeit. Er hat nach seiner Aussage die Spitze der Maslow-Bedürfnis-Pyramide erreicht, danach kommt für ihn nichts mehr, dann muss er neue Herausforderungen suchen und finden.
Seinen eigenen Weg gehen
Heute findet er Bestätigung in kleineren Sachen, die er in der näheren Umgebung findet. Beim Fotichästli, einem Onlineshop für Fotozubehör, kann er seine Erfahrungen in der Fotografie, Social-Media und in der IT-Administration sehr gut einbringen. Hin und wieder schreibt er Blogartikel oder dreht ein Video mit Tipps zur kreativen Verwendung des angebotenen Zubehörs für den Shop. Da arbeitet er jetzt jeden Vormittag (50%) und ist glücklich dabei. Den Rest des Tages fährt er auf seiner Honda Vultus, geht spazieren oder im nahen See schwimmen.
Er ist ein Einzelgänger, der seine Ruhe liebt, aber in Gedanken an einem nächsten großen Ding spinnt. Verschiedene Wellen durchziehen sein Leben. Mal ist es ein Brettspiel oder gerade engagiert er sich in Sachen Food-Sharing. Das sog. Containern bezeichnet die Mitnahme weggeworfener Lebensmittel aus Abfallcontainern. Das Containern erfolgt in der Regel bei Abfallbehältern von Supermärkten, aber auch bei Fabriken. Er wollte wissen, ob man sich davon ernähren kann und hat als Nebeneffekt in kurzer Zeit paar Kilo abgenommen.
Wenn er mal etwas Privates postet, dann denken gleich alle, jetzt ist er wieder präsent, aber das erzeugt bei ihm wieder ungewollten Druck. Daher bleibt er (im Moment) lieber still und kann seine Zeit in Ruhe geniessen. Er hat als Schutz für sich radikal fast alle Kontakte gelöscht und beantwortet keine Mails. Es war einfach zu viel und er hat keine Lust auf (in seinen Augen) sinnlose Konversation. Nur noch sehr gute Freunde kommen zu ihm durch, da habe ich ja Glück gehabt (smile).
Damals hat er in der kleinen Nische das Glück gehabt, schnell bekannt zu werden und seine hohe Reichweite aufzubauen. Heute ist es viel schwerer, weil es heute so viel mehr Fotografen, Möglichkeiten und Plattformen gibt. Da fallen die paar "besseren" kaum noch auf oder bleiben unbekannt.
Erst viel geben, aber es kommt vielfach zurück
Er hat unglaublich viel für die Entwicklung der Streetfotografie in Deutschland geleistet. Das hat er nach eigenen Angaben, aber erst spät selbst erfasst. Es war einfach nur sein Hobby oder seine Passion. In der Bilanz hat er sehr viel (auch ohne Kosten) gegeben, aber auch vieles zurückbekommen und auch gut damit verdient. Geben und Nehmen hält sich die Waage, aber erst muss man geben auch um zu zeigen, was man kann. Hier ein paar meiner Lieblingsbilder von ihm. Schaut mal auf seinen (mittlerweile wieder offenen) Stream auf Flickr. Fast 100.000 Follower können nicht irren ;-)
Alle eBooks zum gratis Download
Er hat in diesem Buch das Wesentliche zum Thema Street-Fotografie beschrieben sowie seine Ansichten und sein Vorgehen aufgezeigt. Hier könnt ihr alle seine eBooks kostenlos als pdf runterladen.
He has published eBooks in German and English, all about street photography. His books are all free, and he wants them redistributed. However, there are dubious download sources on the net that want to beat capital out of the works or pick up your mail address. As a service to you, I may - with the permission of Thomas Leuthard - all his complete eBooks for free download, free of advertising and without registration. You are welcome to share this link
https://thomas-fuengerlings.jimdo.com/thomas-leuthard-ebooks-free/
Zum Schluss möchte ich seine damals definierte 10 Grundsätze auflisten:
Ich fotografiere nur für mich und für niemand anders
Ich nutze die Kamera als Werkzeug, welches austauschbar ist
Ich kann mich nur durch sehr viel Training verbessern
Ich benötige eine gewisse Neugier, um neue Dinge zu sehen
Ich nutze meine Kreativität, um immer wieder Neues zu schaffen
Ich versuche meinem eigenen Stil treu zu bleiben, egal was passiert
Ich akzeptiere die Meinungen und Ansichten der Anderen
Ich sehe mich nicht als Gesetzesbrecher, sondern als Künstler
Ich habe mich für diese Passion entschieden und führe sie weiter
Ich geniesse die Freiheit, es nicht für Geld tun zu müssen