ⓦ 388 Dieter Kunzkes kraftvolle Bildsprache: Balance zwischen Reichhaltigkeit und Reduktion

Seine “Street Photography” fängt das öffentliche Leben in ungestellten und ungeschönten Szenen auf der Bühne des Alltäglichen ein. Sie sucht nach den Geschichten und der Poesie der Straße. Im Fokus stehen die visuell kraftvollen und expressiven Momente des Urbanen, Szenen in denen das Licht immer neue Formen, Farben und Figuren wirft. Seine Bildsprache sucht die Balance zwischen Reichhaltigkeit und Reduktion.

Wir reden heute zusammen über sein Buch, die Vorbilder und über das Making of ausgewählter Streetfotos.

🕒 Kapitelmarken und Links

  • (00:00) Umweg über Simone Christine Sander zu Dieter Kunzke

  • (02:50) Was treibt dich auf die Straße?

  • (06:00) In den Flow kommen

  • (08:00) Motivation und Ehrgeiz

  • (10:30) Flaneur ohne festes Ziel

  • (13:00) Lernen bei Foto-Walks und Community-Treffen

  • (15:00) Home-Town Krefeld

  • (16:00) Buchprojekt „Alone.There is a Dream on the Horizon“ mit Wolfgang Zurborn

  • (26:20) Die Story hinter dem Coverbild

  • (28:30) Vorbilder, Portfolio und Stil

  • (31:30) In the shoes of ...

  • (35:10) Making of Hopper 

  • (36:35) Making of Marseille

  • (38:10) Making of Piräus Koffer am Strand

  • (40:15) Making of Düsseldorf Tußmanstraße 

  • (41:10) Making of Behnisch-Haus Krefeld

  • (42:15) Poesie der Straße

  • (44:00) Website bei Smugmug

  • (48:20) Portrait-Fotografie

  • (51:30) Ausstellungen

  • (55:00) Kommentare und Rezensionen zum Buch (s.u.)


ⓦ weekly52 Streetfotografie Blog & Podcasts - Auswahl

Alone.There is a Dream on the Horizon

Rezension von Wolfgang Zurborn

Es ist ein eigenartiger Schwebezustand zwischen völliger Präsenz in der Gegenwart und traumhafter Entrücktheit, der den besonderen Charakter der Bilderwelt von Dieter Kunzke ausmacht. Allein als Flaneur in den Strassen wandelnd verlässt er sich völlig auf seine Intuition, Augenblicke einzufangen, die ein emotional vielschichtiges Bild unserer Lebenswelt entwerfen. Seine fotografische Haltung basiert auf der Philosophie einer Street Photography, bei der nichts geplant oder inszeniert wird, sondern vielmehr eine Poesie des Zufalls zum Ausdruck kommt. Erst die Ziellosigkeit macht es möglich, flüchtige Konstellationen von Mensch, Objekt und Raum zu erfassen, in denen hintergründige Geschichten über alltägliches Leben erzählt werden. 

Es geht dem Fotografen nicht darum, vorgefasste Ideen mit seinen Bildern zu belegen, sondern offen zu sein für eine Wahrnehmung des Gegenwärtigen, die ihren Blick nicht verschließt vor dem rational nicht unmittelbar Erklärbaren. Jenseits einer sachlich dokumentarischen Beschreibung werden urbane Räume in seinen vielschichtigen Bildwelten zu Bühnen für ein Theater des realen Lebens. Präzise eingefangene Momente, eine ungewöhnliche Kadrierung des Gesehenen und das Gespür für ausdrucksstarke Lichtsituationen lassen das, was wir normalerweise im Alltag übersehen würden, als besonders erscheinen. 

Diese Sensibilisierung für eine Welt hinter dem Offensichtlichen stimuliert die Betrachter*innen, genau hinzusehen auf das, was in ihrem Lebensraum geschieht und wirkt zugleich wie ein Katalysator für ihre Fantasien. Gerade in Zeiten einer ideologischen Zuspitzung, die immer weniger Zwischentöne im Dialog der Menschen untereinander zuzulassen scheint, ist die Wertschätzung des scheinbar Unbedeutenden von besonderer Wichtigkeit. Die Präzision in den Kompositionen der Bilder von Dieter Kunzke beansprucht nicht, eindeutige, unumstößliche Wahrheiten zu vermitteln. Es geht nicht darum, die Welt zum Stillstand bringen, sondern gerade im Gegenteil dazu ihre Vielschichtigkeit und Lebendigkeit zu betonen, eine Ahnung für das Unfassbare zu vermitteln. 

Die große Kunst in der Street Photography besteht darin, dass die größtmögliche Offenheit in der Wahrnehmung des gegenwärtigen Lebens mit allem Unvorhersehbaren und Paradoxen sich nicht in einer Beliebigkeit verliert, sondern mit ihr eine starke persönliche Haltung artikuliert wird. Diese Intention bildet die Grundlage für die fotografische Arbeit von Dieter Kunzke.

Rezension von Reinhard Loock

“Alone“ beginnt mit dem Bild einer Fahrbahn und ihrer Markierungen – ein graphisch, vor allem aber farblich sehr reizvoller Ausschnitt. Zu einem Bild im engeren Sinne und zum ersten Bild dieses Buchs wird es aber erst dadurch, dass hier eine Markierung abgerissen ist und eine merkwürdige Deviation stattfindet. Denn plötzlich verändert sich das Sehen des Betrachters: Schien es sich zunächst rezeptiv auf das geschmacklich Ansprechende einzulassen und das Dargestellte als Markierung zu identifizieren, so wird es jetzt zu einem “sehenden Sehen“ (Max Imdahl). Der Abriss eröffnet dadurch, dass er den Betrachter irritiert, einen Blick auf die Spuren, die der Lauf der Zeit im Asphalt hinterlassen hat, auf ein Geäder von Linien, auf Risse, kleine Löcher, Schmutzspuren, Verfärbungen, auf ein schimmerndes Licht, das die kleinen Steinchen des Straßenbelags plastisch modelliert. Erst aus der Leerstelle, der Unterbrechung, erst aus einem Nullpunkt heraus, so könnte man sagen und darin zugleich eine Metapher für Dieter Kunzkes photographische Arbeit erkennen, entsteht der visuelle Kosmos eines Bilds, der dann eine ganz eigene, imaginäre Welt zu sein vermag und nicht darin aufgeht, die vorgegebene Welt nur zu reproduzieren. 

“Urban loneliness“ lautet der Titel einer Serie Dieter Kunzkes und bezeichnet zugleich einen oder vielleicht sogar den thematischen Kristallisationspunkt seines photographischen Werks. Wartende Menschen, Passanten, die an Graffiti-Wänden vorübergehen, Menschen hinter Glasscheiben und Spiegelungen, nächtliche Kioske oder Imbissbuden ohne Gäste – selten Menschen, die sich begegnen, fast nie Menschen, die in einem kommunikativen Austausch stehen würden. Ein oder das Grundthema der Moderne scheint hier auf, nämlich das der Vereinsamung oder Entfremdung, und zwar in ihren komplexen Formen: im Verhältnis zwischen Mensch und Welt ebenso wie im Verhältnis von Mensch zu Mensch und zuletzt in der Entfremdung des Menschen von sich selbst. Faszinierend ist nun, dass Kunzke sich zwar in diese Tradition stellt, ihr aber zugleich eine ganz andere Gestalt gibt, eine Gestalt, die nicht mehr durch ein abgrundtiefes Leiden geprägt ist.

Die in seinen Streets auftretenden Figuren sind zwar durch Einsamkeit, Kommunikationslosigkeit und Entfremdung geprägt, aber sie sind im Vergleich zur klassisch-modernen Entfremdungstradition viel stärker auf Veränderung und Verwandlung hin angelegt. So fühlt man sich bei “Imbiss Neon“ zwar unmittelbar an Hoppers “Nighthawks“ erinnert, aussagekräftiger sind aber die Differenzen zwischen beiden Bildern. Bei Hopper geht es um existenzielle Einsamkeit. Vier Personen in einer nächtlichen, von Neonlicht erleuchteten Bar, keiner spricht mit dem anderen nicht einmal durch Blicke wenden sich die Anwesenden einander zu. Die Einsamkeit, in die der Betrachter durch seinen Voyeurismus hineingezogen wird, erhält gerade durch ihren Ort in der Öffentlichkeit und Gesellschaft eine spürbare Intensivierung, weshalb auch das Paar am trostlosesten wirkt. Die kühlen Farben und die toten, undurchdringlichen, blicklosen Hausfassaden verstärken diesen Eindruck – ein einsamer Moment in einer anonymen Welt. Trotz des ähnlichen Szenarios ist “Imbiss Neon“ ein ganz anderes Bild. Der Betrachter ist kein Voyeur, seine Blicke werden nicht auf den “einsamen“ Verkäufer gelenkt, der Augenblick ist nicht der einer existenziellen Vereinsamung. Der Verkäufer füllt vielmehr eine Arbeitspause aus, indem er eine Tasse Kaffee genießt, Nachtschwärmer nähern sich aus der Dunkelheit, vielleicht werden sie seine nächsten Kunden, vielleicht ziehen sie weiter irgendwohin in die Nacht. Diese ganz andere Stimmung entsteht letztlich dadurch, dass die Bildregie sich nicht auf den Verkäufer fokussiert, sondern einen Bildraum entwirft, in dem der Verkäufer eine unverzichtbare, aber keine zentrale Rolle spielt. Der Gegenstand des Bilds ist vielmehr das ganze Bild, und das bedeutet vor allem: das Spiel zwischen der gelb leuchtenden Speisekarte und dem Coca Cola-Schild, beider Kontrast zum kalten weißen Neonlicht über dem Herd, das Umfasstwerden der ganzen Szenerie durch das goldene Schimmern, das die nächtliche Hausfassade belebt. Und in dieses Ganze eingebettet befindet sich auch der Verkäufer, alleine und einen Kaffee genießend.

Die Figuren in Kunzkes Bildern sind einsame Menschen, aber primär haben sie Teil an dem öffentlichen Raum, in dem sie sich bewegen und der gewissermaßen vor ihnen da ist. Die Bilder leben gerade davon, dass die Figuren immer kontextualisiert sind und eine gewisse Rolle innerhalb eines Raums spielen, der größer ist als sie selbst. Auf analoge Weise hat der große Linguist Saussure von einer “nullité du sème en soi“ gesprochen; das sprachliche Zeichen trägt seine Bedeutung nicht in sich selbst, sondern erhält sie erst durch die Differenz zu allen anderen Zeichen im ganzen System. So sind auch bei Kunzke die Figuren das, was sie sind, erst durch den Raum, in dem sie sich bewegen. Deshalb stellt dieser Raum auch keinen Hintergrund, keinen Behälter für die Figur dar; er ist weder ein Handlungsort noch ein sozialer oder atmosphärischer oder symbolischer Raum, wie auch die Figuren weder stimmungsmäßig noch psychologisch gekennzeichnet sind. Für die Räumlichkeit in Kunzkes Streets ist vielmehr die oben beschriebene Transformation der realen Welt (“wiedererkennendes Sehen“) in einen visuellen Kosmos (“sehendes Sehen“) entscheidend – es geht nicht mehr um eine Welt materieller Dinge, sondern um einen Raum, der aus Farbe, Licht und Form besteht und in dem der einsame Mensch seinen Ort findet.

So sehen wir einen wartenden jungen Mann auf einem Betonplateau direkt am Meer, neben sich zwei Koffer, die Hände in den Hosentaschen, sich umsehend. Natürlich kann der Betrachter seine Verlegenheit in dieser Situation eines Stillstands nachvollziehen, aber darauf kommt es hier nicht an. Es wird keine Geschichte erzählt, sondern eine Konstellation in einem wunderbaren Licht und mit tiefen Farben entfaltet: der junge Mann steht schwarz gekleidet vor dem schwarzblauen Meer, neben sich zwei gelbe Koffer, ihm gegenüber von der Rückseite her etwas, was ein Getränkeautomat sein könnte und was zugleich wie eine abstrakte Skulptur in Rot wirkt; schließlich einige Tauben auf dem beigen Betonplateau, die in diese Situation der Zeitlosigkeit eine chaotische Bewegung hineinbringen. Auf einer empirisch-psychologischen Ebene wäre der junge Mann als jemand zu deuten, der für einen ebenso harmlosen wie abgründigen Moment die Erfahrung der Vereinsamung und der Fremdheit in der Welt machen müsste. Das photographische Bild dagegen zeigt ihn als Element einer visuellen Welt, die sich unter dem gleißenden Licht des Südens ereignet, als ein zeitloser Augenblick, in dem nichts geschieht und zugleich alles ein Ausdruck reiner Intensität ist. 

Die Entfremdung ist nicht mehr der Bann einer existenziellen Situation, sondern ein Funke, aus dem das Feuer einer überwältigenden visuellen Verdichtung geschlagen wird. Und der Betrachter wird, wenn er sich denn auf den Prozess des Bildes einlässt, zum Teilhaber an dieser poetischen Verwandlung der Welt. Das macht die beglückende Erfahrung aus, die Kunzkes Bilder ermöglichen. Das, was das Bewusstsein der empirischen Welt ausmacht, die Geschichten, die sich in ihr ereignen, die Bedeutungen, die von diesen Geschichten und ihren Figuren ausgehen, verschwindet. An seine Stelle tritt ein visueller Raum, der meistens aus großflächig angelegten Kontrasten, aus gleißend-warmem mittelmeerischem Licht mit langen Schatten, aus Farbfeldern und silhouettenhaften Figuren gebaut ist – eine Bildtektonik, die auf Reduktion ausgeht und dadurch eine hochgradige Intensität erhält. Was in seine Bedeutung eingezwängt war, wird zu einem rein phänomenalen So-Sein und zu einem Ausdruck der Fülle der Welt. Der Traum einer solchen Verwandlung des Wirklichen in ein imaginativ kreatives Bild, also letztlich das Vertrauen auf den Reichtum der Welt und auf die Fähigkeit des Menschen, die Welt zu erneuern, macht den utopischen Horizont von Kunzkes Bildern aus.

Danksagungen

Mein Dank gilt Wolfgang Zurborn für seine breite Unterstützung meiner Fotoprojekte. Ich konnte sehr viel in seinem Seminar über Fotobuch-Editing lernen. Zu dem nunmehr vorliegenden Buch hat er einen sehr prägnanten und substantiellen Kommentar verfasst. Auch die Sequenzierung der Bilder in diesem Buch ist im Wesentlichen sein Werk. Am Ende war ich wieder einmal verblüfft, wie das richtige Zusammenspiel der Bilder einen ganz neuen Gesamteindruck, fast möchte ich sagen, “visuellen Sound“, entstehen lässt. 

Reinhard Loock hat ebenfalls einen wunderbaren Kommentar zu meinem Buch verfasst. Seine Fähigkeit die individuelle Bildsprache zu erfassen und dann sowohl in eine klare, aber auch poetische Sprache zu fassen, beeindruckt mich jedes Mal auf Neue. Auch in seiner Beschreibung meines photographischen Auf- die-Weltschauens fand ich mich in einer Weise zutreffend porträtiert, die mir selber nicht zugänglich gewesen war. Ich erkenne mich hier aber gleichwohl auf eine sehr erfreuliche und stimmige Weise wieder. 

Auch bei Brigitte Hecker und Jürgen Warschun möchte ich mich für den nun über Jahre gehenden lebendigen und sehr intensiven Austausch über Photographie bedanken. Ohne diesen, da bin ich mir sicher, wäre ich heute photographisch nicht, wo ich bin. Auch Mimo Khair, die mich sehr zu diesem Projekt ermutigt hat und in deren Workshops ich sehr viel gelernt habe, gebührt mein Dank.

Quelle: https://www.kunzke-photography.de/Books


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ⓦ 387 Die Poesie der Straße: Peter Ruthardt ist wie ein Fisch im Wasser